Mit den Sehgewohnheiten brechen - Carlos Manuel über "Jelisaweta Bam"
18.Januar 2024Hallo und herzlich willkommen zu „Neues aus der Dramaturgie“. Ich habe heute zu Gast Carlos Manuel. Er inszeniert „Jelisaweta Bam“ und arbeitet erstmals am Theater Plauen-Zwickau. Geschrieben hat das Stück Daniel Charms.
Isabel Stahl: Carlos, wer war Daniil Charms?
Carlos Manuel: Daniil Charms war ein großartiger Schriftsteller, der wiederentdeckt wurde, in den 1980er-1990er Jahren. Er selbst hatte seine produktivste Zeit in den 1920er-1930er-Jahren. Er war im damaligen Leningrad Theatermacher, Kabarettist, Geschichtsschreiber für Kinder, Stückschreiber. Er schrieb Erzählungen. Er veranstaltete Interventionen im öffentlichen Raum. Im Theater hat er viele Genres gemischt: Musik, Zirkus, Bildende Kunst. Er wurde aufgrund von nicht kompatibler Kunst, wie sehr viele andere verfolgt, wurde verhaftet durch die politische Polizei und ist dann sozusagen verschwunden, verhungert in der Psychatrie des Gefängnisses im von Deutschen besetzten Leningrad.
Isabel Stahl Worum geht es in "Jelisaweta Bam"?
Carlos Manuel Jelisaweta Bam handelt von einer jungen Frau, die zu Hause ist, plötzlich klopft es an der Tür und was ist da los? Es scheint, dass sie gesucht wird und der Stück kriegt dann Dimensionen von, wer könnten diese Menschen an der Tür sein und warum wird Jelisaweta gesucht. Dann gibt es Zeitsprünge und Geschichten mit diesen zwei Menschen, die hinter ihr her sind. Also es ist eine Art doppelter Tatort, das würde ich jetzt so nennen. Also es ist ein Tatort, in der die Polizei auch dabei ist als Akteur, also nicht nur im Nachhinein, sondern von vornerein und dann gibt es sehr viele Sprünge. Wir haben viel Musik, die Situation öffnet sich, die Räume, es gibt es Erinnerungsräume, es gibt Wunschräume, es gibt Wunschzeiten, es gibt alles was durch unsere Körper und Gefühle geht, wenn man in Situationen ist, nicht sehr klar sind.
Isabel Stahl Das Publikum hat also die Möglichkeit, mal ganz anders zu gucken, als es gewohnt ist. Wenn ich das richtig aus deinen Aussagen interpretiere, sind wir geprägt von bestimmten Sehgewohnheiten und hier werden wir was ganz Neues erleben..
Carlos Manuel Ja, also ganz anders und trotzdem kommt Bekanntes vor. Das ist das Verrückte, dass wir alle diese Welten haben, ja, also wenn ich jetzt gerade spreche und dieses Interview im Radio laufen würde, da ist der Hörer gerade in einem ganz anderen Kosmos, als der, in dem ich mich gerade befinde. Das heißt, er hört das, aber vielleicht ist er oder sie gerade am Kochen oder am Pflanzen züchten und das was ich gerade sage, bekommt andere Bedeutungen und Assoziationen. Und das Theater oder die bestimmte Gattung von Theater nimmt das beiseite und der Autor, der Daniil Charms, nimmt das zusammen, sozusagen er macht diese Trennung nicht, er legt diese Welten zusammen und das ergibt für unseren Theaterkonsum etwas ganz Neues. Also das tun wir den ganzen Tag und er leitet uns durch diese verschiedene Welten, nicht nur von Jelisawetas Welt, also sie wohnt wahrscheinlich mit ihrem Papa und ihrer Mama, was ist das für ein Mensch und auch was sind diese zwei Polizisten, die sie suchen, also was sind ihre Sehnsüchte. Also in dieser Welt läuft immer alles parallel, das passiert eigentlich ständig. Im Theater gibt es oft eine lineare Handlung und hier läuft alles gleichzeitig und miteinander.
Isabel Stahl Daniil Charms hatte ja auch eine Theatergruppe, die sie „Oberiu“ nannten und in dem Manifest der Gruppe hat er auch darüber gesprochen, dass er Bildende Kunst, Musik, dass er alle Künste als gleichgestellt, gleichberechtigt betrachtet und in „Jelisaweta Bam“ wird auf jeden Fall Musik eine sehr wichtige Rolle spielen.
Carlos Manuel Ja, also es wird gesungen gespielt, getanzt, es wird gezaubert, es werden alle unsere Theatermittel verwendet und was bedeuten diese ganzen Künste, also wenn man eine Malerei macht, macht man so einen Schnitt, es ist so, man konzentriert es, es ist wie ein Fenster, eigentlich ist es nicht eine Reduzierung von Raum,es ist eine Öffnung von Raum. Das versuchen wir auch hier mit dem Stück, also wenn man singt, die Zeit dehnt sich, der Raum erweitert oder verengt sich.
Isabel Stahl Du bist ja auch ein großer Fan von Daniil Charms, kannst du vielleicht unseren Leser:innen sagen, warum sollte man „Jelisaweta Bam“ sehen, was hat das mit uns zu tun, warum gehört das auf den Spielplan?
Carlos Manuel Also ich glaube was hier wieder mal eintritt seit ein paar Jahren ist das Bewusstsein, dass die Welt, die Weltordnung, die wir glaubten, dass sie in Ordnung ist, wieder aus den Fugen gerät. Das ist für uns hier, was wir hier Westeuropa nennen, vielleicht wieder mal neu, aber für die ganze Welt ist es nicht neu, also es sind nur die Regeln, die sich plötzlich verschieben und wir müssen uns anpassen oder auf neue Regeln einstellen oder selbst neue erfinden. Darum geht es ganz viel in „Jelisaweta Bam“, nicht im großen politischen Diskurs, sondern in der Privatsphäre. Also was ist mein Raum, was ist dein Raum. Da wird keine digitale Welt thematisiert, das ist das Stück, das hat ja fast 100 Jahre, aber es wird diskutiert, was ist eine öffentliche Rede, was ist privat, was gehört sich in der Öffentlichkeit, was gehört sich im Privaten. Und das Gefühl, dass der Boden oder die Wände, sich plötzlich verschieben, wo die Welt in deinen Innenraum eindringt, also das finde ich momentan sehr extrem, also nicht durch die Medien, die unsere Häuser eindringen und in unsere Gefühle, aber auch in das, was sie da transportieren und uns mitteilen, oder wie wir uns mitteilen in der Welt. Die Medien haben sich geändert und wie wir in die sogenannten anderen Welten eindringen, finde ich sehr zeitgenössisch, sagen wir so, es ist auch ein bisschen ein Verlust von Kontrolle. Im Stück wird eben nicht erklärt, es wird gespürt, was sich verschiebt und in „Jelisaweta Bam“ verschieben sich tatsächlich die Wände. Wir gehen von einem kleinen Zimmer in Landschaften, wir gehen auf Wiesen, wie gehen auf Berge, auf andere komische Räume oder sehr bekannte Räume, plötzlich gibt es ein Konzert, einer fängt an zu singen, weil er so seine Gefühle ausdrücken kann und Sprache ist dann nicht mehr genügend. Plötzlich ist die Sprache nicht mehr genügend, und dann schicken wir Lolls und Smiley's und so weiter. Ja, das Stück sollte auf jeden Fall im Repertoire laufen. Ja, es lebe Daniel Charms. (lacht)
Isabel Stahl Ich freue mich schon darauf und hoffe natürlich, dass unsere Zuschauer:innen genauso gespannt sind und zu uns kommen. Ich danke dir für das Gespräch, Carlos.
Carlos Manuel wurde 1968 in Luanda/Angola geboren. Er studierte von 1986-1992 Philosophie an der Universidade Federal do Paraná in Curitiba/Brasilien und war anschließend Gaststudent am Conservatoire National Supérieur d'Art Dramatique de in Paris. Danach absolvierte er ein Studium der Theaterwissenschaften an der Sorbonne Nouvelle/Paris. Er arbeitet als freier Regisseur und inszenierte zahlreiche Theaterstücke in Deutschland u.a. am Bayerischen Staatschauspiel München, Schauspielhaus Hamburg, Theater an der Parkaue Berlin, Hans-Otto-Theater Potsdam, Thalia Theater Halle, DNT Weimar, Badisches Staatschauspiel Karlsruhe, Theater Rudolstadt, Schauspiel Dortmund, Hessisches Staatsschauspiel Wiesbaden, Nationaltheater Mannheim, Stadttheater Spandau sowie in Frankreich, Brasilien, Angola, Russland und Schweden. Weiterhin arbeitet er gerne mit fiktionalen, juristischen oder wissenschaftlichen Recherchematerialien und entwickelt daraus Theaterstücke in öffentlichen Räumen, Forschungszentren, Parlamenten und Theaterräumen.