Gespräch mit Klaus Fischer anlässlich der Theaterwoche der Toleranz

19.September 2024

Selbstreflexion und Freundlichkeit –
ein Gespräch mit Klaus Fischer über Toleranz in Kunst und Gesellschaft
 
Was bedeutet für Sie Toleranz?
 
Den Begriff Toleranz kann und sollte man weit fassen - Toleranz bedeutet im Wesentlichen leben lassen! Toleranz bezieht sich in der Regel auf eine diskutable Sache oder Zeitströmung, aber natürlich auch auf Ansichten und Denkinhalte, die bestimmte Personen äußern und weiterreichen - und von dem sie vielleicht auch zu wissen glauben, das sei die exklusive und normative Wahrheit. Dabei ist die Grenze ganz klar: Rassistische oder antisemitische Äußerungen sind nicht tolerabel, genau wie Gewaltbereitschaft bzw. der Aufruf zu gewaltsamen Aktionen, um die eigene Meinung, koste es, was es wolle, durchzusetzen. Dies ist genau das nicht hinnehmbare Gegenteil von Toleranz.
Dann, denke ich, muss man einschreiten. Wie man das macht, das muss die konkrete Situation zeigen, aber ich denke mal: Toleranz ist umfänglich und sicher auch großzügig, doch sie hat ihre strikten Grenzen.
 
Das wären also Grenzen: Intoleranz, Rassismus, Gewaltbereitschaft?!?
 
Ich meine, das ist auch ein gewisses Paradoxon der Toleranz: Wir sind hoffentlich tolerant, ermöglichen aber in dem, was wir künstlerisch hervorbringen, mitteilen - auch beim Gestalten gesellschaftlicher Umstände - andersgesinnten Leuten, die jede politische und kulturelle Toleranz vermeiden, ja ablehnen, mit unserer praktizierten Toleranz knallhart ideologisch und kompromisslos umzugehen, mit dem Ziel, sie schlichtweg abzuschaffen. Wir bereiten sozusagen das Umfeld, in dem sie sich gefahrlos intolerant zeigen und stabilisieren können, um uns, die wir diese Toleranz eigentlich als Selbstverständlichkeit verstehen, um uns im schlimmsten Fall mundtot zu machen.
 
Wie erleben Sie das, wenn Sie an Kunst denken? Ist in der Kunst alles zu tolerieren oder gibt es dort auch Grenzen?
 
Natürlich gibt es dort auch Grenzen. Sie wollen ja zum Beispiel nicht bei Propagandakunst landen, eine Kunstform, die ganz explizit politisch ist, und die vielleicht komplexe ästhetische Dimensionen zugunsten einer verkappten Botschaft vernachlässigt. Das ist zumeist eine Kunstform und -produktion, die an einen geschlossenen ideologischen Apparat gekoppelt ist, der Kunst und Kultur nur noch unter einem zweckdienlichen Aspekt sieht: Wie kann ich eigentlich meine Macht oder Meinungshoheit absichern? Wie kann ich Macht
erlangen und Macht steuern? Dadurch wird Kunst und Kultur wirklich reine Propaganda, wie wir das im Dritten Reich hatten und auch in heute bestehenden Diktaturen vorfinden.
Man muss einfach sagen, ganz analog zum Kategorischen Imperativ, den Kant im 18. Jahrhundert formuliert hat: Was ich selber haben möchte, soll auch gesellschaftlich ganz allgemein gelten, das muss ich auch dem anderen zukommen lassen. Immer nach Maßgabe der Vernunft als zentraler Instanz und einer humanistischen Weltanschauung soll Freiheit und die Möglichkeit, seine Meinung ungefährdet kundzutun, die oberste Maxime sein. Kunst, die zum Beispiel rassistisch ist, die irgendwelche unmenschlichen, totalitären Ansichten fanatisch glorifiziert, da existiert schon eine eindeutige, wenn auch vulnerable Grenze! Aber wo ideologisch verbrämte Grenzen blindwütig überschritten werden, da muss auch Kunst oder Kultur allgemein einschreiten und mit dem Finger auf Toleranzfeinde zeigen, so, ab jetzt wird es gefährlich für unser ausgewogenes Zusammenleben, für die Demokratie und die Sicherheit, in ihr leben zu können.
 
Also muss man beständig Fragen aufwerfen, keine einseitigen, nur abstrakte Lösungen vorstellen, sondern Themen formulieren und für viele Antworten offen sein!
 

Es gibt ein Gedicht von Bertolt Brecht („Vergnügungen“), das endet mit dem appellativen Vers „freundlich sein“. Das ist die entscheidende Zeile: Man macht verschiedene alltägliche, angenehme Dinge für sich selbst, man hat daran seine private Freude, aber entscheidend ist, dass man freundlich ist zu anderen, erst recht zu einem bestimmten Menschen. Das Gedicht eröffnet einen kleinen Diskurs zur Toleranz. Mehr kann es manchmal auch gar nicht sein: Seid freundlich miteinander, seid höflich oder unterstützt euch gegenseitig.
Das ist einer der wichtigsten Impulse, die Kunst über die reine Selbstreflexion und das künstlerische je ne sais quoi [das gewisse Etwas, Anm. d. Red.] hinaus, auch jenseits philosophischer Diskurse markieren und empfehlen kann: Es geht um die Etablierung und Bewahrung fairer, rücksichtsvoller Standards im sozialen Umgang, im ausdifferenzierten gesellschaftlichen Miteinander. Um bei der Literatur zu bleiben: Vielleicht kann man hier auch an jenen wunderbaren Text zur Toleranz denken, den Lessing in seiner Ringparabel exemplarisch formuliert hat.
 
Doch wie kann Kunst bewirken, dass man gut und tolerant zusammenleben kann, dass man sich unterstützen kann? Ist das eine Aufgabe von Kunst?
 
 
Vergnügungen
 
Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen
Das wiedergefundene alte Buch
Begeisterte Gesichter
Schnee,

der Wechsel der Jahreszeiten
Die Zeitung
Der Hund
Die Dialektik
Duschen, Schwimmen
Alte Musik
Bequeme Schuhe
Begreifen
Neue Musik
Schreiben, Pflanzen
Reisen
Singen
Freundlich sein.

 
(Bertolt Brecht)
Kunst hat natürlich viele, viele Aufgaben, Gestaltungsvariablen und Verhaltensweisen. Das zeigt ihre Historie seit tausenden von Jahren. Kunst kann ja auch ganz selbstreflektierend auf sich selbst eingehen – Kunst selbst hat vielfach Inhalte, die vielleicht nur kunstimmanent sind, und dabei mit ihren Mitteln experimentiert. Das Gegenteil wäre die künstlerisch kaum formbare Meinungsäußerung mit einem mehr oder weniger gelungenem Einsatz „artifizieller“ Mittel. Kunst ist auch dazu da, dass sie ihre Rahmenbedingungen einleuchtend macht für Leute, die normalerweise keine Zeit und Gelegenheit haben, sich mit Kunstwerken auseinanderzusetzen. Das heißt, sie muss dann vielleicht auch auf interessierte, offene Menschen zugehen und diese auffordern: Wir haben hier einen gesellschaftlichen Befund, da möchten wir uns als Künstler, Künstlerin und Kunstvermittler äußern - und wir machen das mal als akzeptables Angebot. Überlegt euch, ob ihr da mitkommen möchtet oder spinnt den Gedanken selbst weiter und schaut, ob Kunst es vielleicht schafft, angeregt nachzudenken, ins produktive Gespräch zu kommen mit anderen und an der gemeinsamen Konsensbereitschaft zu arbeiten.
Also, man kann mit und ohne Kunst Probleme angehen, die sich formieren oder längst in den unterschiedlichsten Bereichen unserer Gesellschaft entstanden sind.
 
Kunst kann also Vorbild, aber auch eine Aussage sein.
 
Ja – und auch wenn sie eine leicht erkennbare Aussage verweigert, ist ihr Vorhandensein quasi schon ein Statement. Kunst arbeitet immer wieder auch mit ganz probaten Mitteln – mit der Provokation! Einfach auch deshalb, weil es diese gibt. Kunst arbeitet vielleicht auch mit dem gezielten Verschweigen von Selbstverständlichkeiten, das aber sehr beredt ist. Und dann muss man einfach schauen, dass man für sich selbst ins Nachdenken kommt und auch zur Empathie. Und die kontrollierte Provokation ist etwas, was vielleicht mal sehr schnodderig, aggressiv oder auch nicht sehr tolerant daherkommt. Aber sie dient genau einem aufklärerischen Prozess dadurch, dass sie eben auch wieder den Finger legt in eine kleine oder eine klaffende Wunde und sagt:
 
Passt auf, Leute! Da müssen wir dran arbeiten, hier müssen wir insgesamt miteinander besser kommunizieren und gleichberechtigt zurechtkommen.
Also, Kunst kann auch ganz häufig anregen, sich mit gesellschaftlichen Bereichen zum ersten Mal zu beschäftigen, mit Themen, an denen man sonst vorbeigeht. Immer geht es auch um die Einübung in Toleranz. Denken Sie beispielsweise an einen Aufklärer wie Voltaire, dem folgendes Diktum in den Mund gelegt wurde: „Ich missbillige, was Sie sagen, aber ich werde bis zum Tod Ihr Recht verteidigen, es zu sagen.“
 
Aber gilt es nicht auch, den Anfängen zu wehren?
 
Ganz sicher, denn über Nacht kann uns totalitäres Denken um den Schlaf bringen. Man muss sehr aufmerksam sein, sehr genau hinschauen, sich selber reflektieren, ins Verhältnis zu anderen setzen und ins gegenseitig wertschätzende Gespräch kommen. Das ist auch das High-End künstlerischen Arbeitens wie natürlich auch der Präsentation von Kunst. Es gibt die Möglichkeit des Missbrauchs, aber der umfassende Missbrauch von Kunst verlangt meiner Meinung nach auch schon größere, starke Systeme, in denen Kunst disfunktionalisiert oder instrumentalisiert werden kann, um damit andere zu manipulieren. Es ist nicht die Kunst selbst, die fremdbestimmt werden möchte. Sie ist ein Angebot zur Interpretation, hat dabei aber bestimmte Intentionen. Auf diesem Weg kann sie von Kunst- und Kulturleugnern auch für totalitäre Zwecke entführt und missbraucht werden.
 
Wer beurteilt das, ob das jetzt in eine verkehrte Richtung geht? Wir haben uns ja doch Toleranz aufs Banner geschrieben und ich für meinen Teil akzeptiere, dass das Kunst ist, auch wenn ich es nicht verstehe.
 
Ich nehme für mich in Anspruch zu sagen, das gefällt mir nicht, nicht nur, ich verstehe es nicht, sondern das gefällt mir auch nicht, und das muss auch stehenbleiben dürfen. Natürlich gibt es auch schlecht gemachte Kunst, die sich in aller Regel nicht bekannt machen kann. Ein Ausstellungsbesucher muss gar nicht weiterführende Kenntnisse haben, sondern da ist es in Ordnung, wenn er sich offen zeigt, sich auch einfach an einem Werk erfreut oder feststellt, ja, das ist vielleicht große Kunst, aber sie sagt mir nichts und sie gefällt mir nicht.
 
Aber man würde niemals, wenn man aufrichtig urteilt, sagen, es ist schlecht. Und diese kruden Ideologen auf der anderen Seite sagen natürlich, dass für sie nicht verständliche und nicht kontrollierbare Kunst einfach schlecht ist, zudem öffentliche Gelder verschlingt und nur gemacht ist für das Gutmenschentum. Diese radikale Ablehnung ist das zwangsläufige Resultat eines radikal zugekleisterten Weltbildes.
Auch unpolitische Kunst kann überwältigende Gedankenszenarien entwickeln und erfahrbar machen, um einen geistigen, einen spezifisch visuellen Raum zu eröffnen, in dem man Mitmenschlichkeit empfinden kann.
Und das ist, glaube ich, eine große Leistung, die eigentlich wirksame, ja zeitlose Offenbarung, die Kunst und Kultur hervorbringen kann. In diesem Sinne ist eines der größten und wunderbarsten Bekenntnisse zur Toleranz in der gesamten Kulturgeschichte Beethovens und Schillers Vision: „Alle Menschen werden Brüder“!
 
Klaus Fischer ist der Vorsitzende der Freunde Aktueller Kunst- In der Galerie in Zwickau ist derzeit eine Ausstellung zu sehen: Demokratie! Wählen! Nicht schiessen! Eine außerordentlich interessante Verbindung von Literatur, Kunst und Politik, denn 31 Künstler und Künstlerinnen haben sich kreativ mit dem Gedicht Absage von Kurt Tucholsky beschäftigt.