Weil ich Angst habe.

Warum Jugendliche in Plauen an den Holocaust erinnern möchten.

30.Januar 2025

Es ist kurz vor Weihnachten und kalt, als ich mich zum ersten Mal zur Leseprobe für den Holocaust-Gedenktag mit den Freiwilligen aus den JUPZ! Jugendclubs treffe. Auf dem Weg erinnere ich mich, wie ich als Schülerin an einem ebenso kalten Vormittag mit meiner Klasse die KZ-Gedenkstätte in Dachau besuchte. Ziegel, Kälte, Stille und ein bedrückendes Gefühl der Verantwortung.

Ich habe die Jugendlichen gebeten, Zeitungen mitzubringen und während wir gemeinsam Boote falten, sprechen wir über ihr Wissen über den Holocaust, ihren Geschichtsunterricht und ihre Gedenkstättenbesuche. Dabei fallen uns immer wieder einzelne Überschriften und Sätze in den Artikeln auf, die wir zusammenfalten. Wir sprechen also auch über unsere heutige Welt: Social-Media, Radikalisierung, den Regierungszerfall und den Wahlkampf, manche dürfen im Februar zum ersten Mal wählen, manche hätten zum ersten Mal wählen dürfen, wenn die Wahl wie geplant im September stattfinden würde, bei manchen ist es erst in ein paar Jahren so weit. „Wie fühlt ihr euch damit?“- „Ja, scheiße. Ich habe Angst vor den Ergebnissen“ Zustimmung von allen Seiten. Wir beginnen zu proben.

Das Stück „Doch einen Schmetterling hab ich hier nicht gesehen“ von Lilly Axster ist eine Collage über Kinder und Jugendliche in Konzentrationslagern und entstand unter Verwendung authentischen Materials. Zwei Seiten Quellenangaben sind an den Text angeheftet: Zeitzeugenberichte und Biografien, Archivmaterialforschung, Bilder und Filme und wörtlich zitierte Gedichte geschrieben in Theresienstadt und einem jüdischen Gymnasium in Krakau. Eine erdrückende Sammlung. Dabei ist das Stück schon rein formal nicht einfach, die Szenen brechen ab, die Sprache versiegt und in der Mitte eine leere Seite.
„Wir können die nicht sein, auch nicht im Spiel im Theater, weil wir nicht hungern, uns warm ist, wir Haare haben und uns waschen können, wir Deutsch sprechen, nicht ungarisch oder jiddisch…“, weil uns bewusst ist, dass wir die Nachfahren von NS-Verbrechern sind. „Wir werden nicht so tun, als wären wir jene wirklich, wir werden an sie erinnern und wollen von ihnen sprechen und über sie und uns auch“, weil es unsere Pflicht und Verantwortung ist, nicht zu vergessen. Gerade in Zeiten wie diesen.

Wir treffen uns an drei Wochenenden im Januar, teilen die Sprechrollen ein und uns in zwei Gruppen: Ghetto und Gedicht, während da draußen ein Milliardär den Wahlkampf einer in Sachsen gesichert rechtsextremistischen Partei unterstützt und im Gespräch mit der Spitzenkandidatin Hitler als Kommunist bezeichnet. Während wir darüber sprechen, wie wir die Sätze und Worte, das Kinderspiel 2 und 4 klingen lassen, und die Träume und Hoffnungen der Kinder in den Lagern und Ghettos (Wir bauen eine unteridische Kinderstadt in den Kanälen) voll nachvollziehen können, wird ein verurteilter Straftäter wieder Präsident der Vereinigten Staaten und bezeichnet eine Bischöfin als radikale Hetzerin, weil sie um Barmherzigkeit bittet, für schwule, lesbische und transsexuelle Kinder sowie für Migranten, die um ihr Leben fürchten. Zur Generalprobe am Sonntag vor der Lesung bringen zwei Jugendliche vier Hände voll mit „Dreck“ mit, sie hätten Sticker mit rechten Symbolen von verfassungsfeindlichen Institutionen und faschistischen Parolen entfernt: „Wo ist hier der Mülleimer?“

Warum wir uns an den Holocaust erinnern müssen, ist für die Jugendlichen vollkommen klar:

„Nie wieder ist JETZT!“ Sie schicken mir Zitate von Margot Friedländer, Anne Frank, Elie Wiesel, Primo Levi, Yehuda Bauer, Theodor W. Adorno und auch Morgan Freeman und nehmen Sprachnachrichten auf. Ihre persönlichen Gründe in eigenen Worten wollen wir auf unsere kleinen Schiffchen schreiben:

„Wir dürfen diejenigen nicht vergessen, die ihr Leben verloren haben, nur weil sie Menschen waren, die nicht in das Bild der NS-Zeit gepasst haben. Menschen, die nichts verkehrt gemacht haben. Menschen, die friedlich Seite an Seite lebten, Menschen, die einfach Menschen sein wollten. Leben wollten.“
„Gerade in der heutigen Zeit, wo Rechtspolitik wieder zunimmt und Hass und Fremdenfeindlichkeit wieder verstärkt zu spüren sind, ist es wichtig, sich zu erinnern an all die Menschen, die aufgrund einer Welle von Hass und Fremdenfeindlichkeit ermordet wurden. Nur indem wir uns an das Geschehene erinnern, ist es möglich, ihr Andenken zu erhalten sowie eine neue Welle von Zwietracht, Zweifel und Menschenfeindlichkeit zu verhindern.“
„Damit so etwas Schreckliches nicht noch einmal passiert.“
„Unabhängig von Herkunft, Alter, Religion, Sexualität und Aussehen, das Blut, das in unseren Adern fließt, ist überall gleich rot.“

„Ich nehme an der Lesung zum Holocaust Gedenktag teil, weil es wichtig ist, die Erinnerung an die Opfer wachzuhalten und aus der Geschichte zu lernen. In einer Zeit, wo Antisemitismus und Hass immer noch präsent ist, möchten wir ein Zeichen setzen für Menschlichkeit, Respekt und das Bewusstsein, das solche Verbrechen nie wieder geschehen dürfen. Es ist unsere Verantwortung, die Vergangenheit nicht zu vergessen und für eine bessere Zukunft einzustehen.“

Die Gruppe versteht die deutsche Erinnerungskultur als ein Auftrag, Verantwortung zu übernehmen, sich zuständig zu fühlen, hinzugucken, nicht zu schweigen und sich einzumischen, gerade für uns Nachfahren von NS-Verbrechern. Damit beginnen wir die Lesung. Es folgt ein Abend, der gegen das Vergessen kämpft. Am Ende füllt Stille und ein bedrückendes Gefühl der gemeinsamen Verantwortung den Raum.

Beim Aufräumen entdecke ich ein Schiffchen im Proberaum:
Warum nehme ich an der Lesung teil? – Weil ich Angst habe. Angst, dass …
Mehr gibt es nicht zu sagen.
 
 
Mitwirkende: Emilia Bessel, Noah Günther, Billie Härtling, Ida Heyne, Annkathrin Pecher, Hanna Schicketanz, Hannah Taubert, Felizia Wittek und John Joachim, und ich, Hanna Rüd. Vielen Dank, es war mir eine Ehre mit euch den Gedenktag zu gestalten!